
Während Millionäre und Milliardäre immer reicher werden, müssen immer mehr Menschen mit immer weniger auskommen. Weshalb auch in der Schweiz viele Arbeitnehmer heute kaum mehr über die Runden kommen, das zeigt Regula Heggli von der Caritas auf. Neuland publiziert einen Auszug aus Ihrem Beitrag im Sozialalmanach 2012.
Ein Diskussionsbeitrag von Regula Heggli
Im Winter 2010/2011 begann mit Demonstrationen in Tunesien eine Reihe von politischen Bewegungen im arabischen Raum, in Nordafrika und Südeuropa. Der Auslöser für die als «Jasminrevolution» bezeichneten politischen Ereignisse in Tunesien war die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers im Dezember 2010. Er hatte sich aus Verzweiflung über bürokratische Schikanen, die ihn daran hinderten, den Lebensunterhalt für seine Familie zu verdienen, angezündet.
Auf die Proteste in Tunesien folgten Kundgebungen und Protestbewegungen in Ägypten, Libyen und Syrien – um nur die medial nachhaltig präsenten zu nennen. Ab Mai 2011 machten in Spanien die Indignados (die Empörten) mit Protestcamps und Grossdemonstrationen auf die sozialen Missstände, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit, den drohenden Wohnungsverlust vieler Familien und die Korruption, aufmerksam. Im Juli demonstrierten in Israel Angehörige der Mittelschicht gegen zu hohe Lebenshaltungskosten, Mängel im Bildungs- und Gesundheitssystem, gegen Wohnungsnot und grosse Lohnunterschiede. In London und anderen britischen Städten kam es im August zu gewalttätigen Ausschreitungen, die nur vor dem Hintergrund der massiven sozialen Ungleichheiten und der Perspektivlosigkeit eines Teils der Jugendlichen erklärbar scheinen.
Diese Ereignisse unterscheiden sich in ihrer Intensität und Dauer, ihren Motiven, Zielen und den politischen Folgen. Sie reichen von einzelnen friedlichen Demonstrationen unter Beteiligung breiter Bevölkerungskreise über revolutionäre Demokratiebewegungen und extreme Gewalteruptionen bis zu blutigen und monatelangen Bürgerkriegen. Trotz ihrer Komplexität und Unterschiedlichkeit ist ihnen eines gemein: Alle Erklärungsversuche weisen auf soziale Ungleichheit, Armut und Perspektivlosigkeit als eine der Ursachen hin.
Auch in Schweiz sind Hunderttausende von Armut bedroht
Die Situation in der Schweiz ist in keiner Weise vergleichbar mit jener in den oben erwähnten Ländern. Aber auch hierzulande sind die Unterschiede zwischen jenen, die viel haben, und jenen, die zu wenig haben, in den letzten Jahren grösser geworden. Auch wenn das Ausmass ein völlig anderes ist als zum Beispiel in Spanien, wo die Jugendarbeitslosigkeit im August 2011 von der OECD mit über 40 Prozent angegeben wurde (Schweiz 7,2 Prozent), haben es die Menschen, welche vom wirtschaftlichen Wachstum der letzten Jahre nicht profitiert haben, schwierig.
Neue Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) bestätigen, dass zwischen 8 und 14,6 Prozent der Schweizer Bevölkerung Gefahr laufen, von Armut betroffen zu sein. In den letzten Jahren haben nicht nur die verfügbaren Einkommen der unteren Einkommensklassen, sondern auch jene der Mittelschicht stagniert, während die finanziellen Belastungen zugenommen haben. Dies führt vermehrt zu Unsicherheiten und Ängsten.
Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken
Als Vorbereitung zur Legislaturplanung 2012–2015 hat der Bund im Frühjahr 2011 eine Lage- und Umfeldanalyse veröffentlicht. Darin figuriert als eine unter sechs Herausforderungen die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Der Bericht hebt in diesem Zusammenhang «ungleiche Einkommensverteilung; steigende Armut und Prekarisierung der Lebensverhältnisse für einen Teil der Bevölkerung; die Problematik der Working Poor; eine steigende Sockelarbeitslosigkeit; eine zunehmende Konkurrenz um Arbeitsplätze als Folge der Personenfreizügigkeit; Steuerwettbewerb; allgemein verstärkter nationaler und internationaler Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren; mögliche Kaufkraftverluste durch stark steigende Preise für Ressourcen und Dienstleistungen oder die weitere Zunahme der Gesundheits- und Sozialversicherungskosten» hervor.
Vor dem Hintergrund der sich erneut zuspitzenden weltwirtschaftlichen Probleme dürfte sich die Ungleichheit auch in der Schweiz weiter verstärken. Die zu beobachtende Verfestigung der strukturellen Unterschiede und die damit verbundenen Probleme können nicht durch den Sozialstaat alleine aufgefangen werden. Dieser kann und soll gewisse Risiken, wie sie uns alle treffen können – Alter, Krankheit, Invalidität –, abdecken und in Notsituationen Unterstützung bieten. Die Folgen der ungerechten Verteilung hingegen können nicht auf die Sozialwerke abgeschoben werden. In der Schweiz – und nicht nur hier – braucht es in Zukunft mehr Verteilungsgerechtigkeit.
«Dene wos guet geit giengs besser…»
«Dene wos guet geit
giengs besser
giengs dene besser
wos weniger guet geit
was aber nid geit
ohni dass’s dene
weniger guet geit
wos guet geit
drum geit weni
für dass es dene
besser geit
wos weniger guet geit
und drum geits o
dene nid besser
wos guet geit»
(«Dene wos guet geit», aus: Mani Matter: Us emene lääre Gygechaschte. Berndeutsche Chansons. © 2011 Zytglogge Verlag Oberhofen am Thunersee)
Es treffender zu formulieren, als es Mani Matter gemacht hat, ist schwierig. Die Einkommens- und Vermögensschere hat sich in der Schweiz in den letzten Jahren deutlich geöffnet. Die zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit beschäftigt auch das World Economic Forum (WEF) in Davos und das Magazin «Volkswirtschaft» des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco).
Wirtschaftliche Turbulenzen und soziale Verwerfungen könnten die Fortschritte zunichte machen, die mit der Globalisierung verbunden seien, heisst es im WEF-Bericht von 2012 über die 50 grössten globalen Risiken.
Die steigende Staatsverschuldung und massive Einkommensunterschiede zählten zu den grössten Gefahren für die globale Wirtschaft, weil sie Nährboden für Populismus und Protektionismus sind.
Die massive Zunahme junger Menschen ohne Zukunftsaussichten, die steigende Anzahl von Rentnern, die von den Zahlungen ihrer hochverschuldeten Staaten abhängig seien und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sorgen nach Ansicht des WEF für zunehmende Verbitterung. Bei einer Verschlechterung der Wirtschaftslage sei der Sozialvertrag zwischen Staaten und ihren Bürgern in Gefahr.
Vielerorts habe sich der Kapitalismus entwickelt, in dem ganze Gesellschaftssektoren ausgeschlossen waren, sagt WEF-Gründer Klaus Schwab in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Es wundere ihn nicht, dass die sich öffnende Schere zwischen tiefen und hohen Einkommen nun zu einer so starken Reaktion geführt hat. «Es ist so viel Unzufriedenheit vor allem bei der jungen Generation aufgestaut, dass es zu einer Explosion kommen kann», stellt der Gastgeber der Reichen und Mächtigen fest.
Bereits am WEF 2011 wurde im Rahmen der Diskussionsrunde mit dem Titel «Die neue Realität in der Wirtschaft» über die wachsende Ungleichheit diskutiert. Martin Sorell, Chef des britischen Industrieunternehmens WPP Group, wies dabei darauf hin, dass besser verteilter Reichtum zu mehr Konsum und zu breiter abgestützten Investitionen führe, was wiederum die Wirtschaft stabiler mache. Er bekam Rückendeckung von Min Zhu, Sonderberater des Direktorats des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Podiumsteilnehmende und Publikum anscheinend in Verlegenheit brachte, indem er dazu aufrief, die wachsenden Unterschiede nicht hinzunehmen und den Zusammenhang mit den Entwicklungen an den Finanzmärkten ernst zu nehmen.
In der «Volkswirtschaft» vom Juni 2011 schreibt auch Josef Zweimüller, Professor am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Zürich: «In einer solchen Situation tut die Wirtschaftspolitik gut daran, dem Ziel einer gerechten Einkommensverteilung verstärktes Augenmerk zu widmen. Eine von der Bevölkerung als gerecht empfundene Einkommensverteilung ist die Basis für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, hohe gesellschaftliche Kohäsion und sozialen Frieden.» Bezogen auf die Schweiz spiegelt sich diese Thematik in den Debatten um Managerlöhne und Bonibesteuerung auf der einen und Working Poor und Mindestlöhne auf der anderen Seite.
Mehr Millionensaläre und noch reichere Milliardäre
Die Zahl derjenigen Personen, die im Jahr mehr als 1 Million Franken verdienen, hat sich in der Schweiz innerhalb von zehn Jahren, zwischen 1997 und 2008, verfünffacht. Waren es vor 15 Jahren rund 500, sind es heute über 2800 Personen.
Heute besitzen zudem 3 Prozent der privaten Steuerpflichtigen gleich viel Nettovermögen wie die restlichen 97 Prozent. Die Vermögen der 300 Reichsten sind in den letzten zwanzig Jahren von 86 Milliarden auf 449 Milliarden Franken angestiegen. Die Schweiz befindet sich im Ländervergleich der Credit Suisse von 2010, was die Vermögensungleichheit angeht, auf dem dritten Platz, hinter Singapur und Namibia.
Das durchschnittliche Bruttoeinkommen eines Erwerbshaushaltes lag in den Jahren 2006–2008 bei 10 104 Franken im Monat. Die Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen sind dabei gross. So hat das einkommensstärkste Fünftel ein mehr als dreimal höheres Einkommen (15 604 Franken) als das einkommensschwächste Fünftel (4700 Franken). Das durchschnittliche Bruttoeinkommen hat seit 1998 preisbereinigt kaum zugenommen. Die Nominallöhne stiegen im Jahr 2010 um 0,8 Prozent, so wenig wie seit zehn Jahren nicht mehr. Aufgrund der Teuerung von 0,7 Prozent kann bei der Kaufkraft von einer Stagnation gesprochen werden. Im Sommer 2011 forderten die Gewerkschaften bei einer erwarteten Teuerung von wiederum 0,7 Prozent denn auch nominelle Lohnerhöhungen zwischen 1,5 und 3 Prozent.
Gemäss der Verteilungsstudie des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) machen sich beim Lohnzuwachs deutliche Unterschiede zwischen den hohen und den tiefen Einkommen bemerkbar. Während die hohen Löhne in den letzten Jahren um 10 Prozent gestiegen sind, nahmen die tiefen und mittleren hingegen bloss um 2 bis 3 Prozent zu.
Niedrige Einkommen stärker belastet
Noch auffallender und für die Lebenssituation der Menschen bedeutender ist die Entwicklung des verfügbaren Einkommens. Der Verteilungsbericht zeigt auf, dass im Jahr 2008 eine Familie mit tiefem Einkommen 400 Franken mehr zur Verfügung hatte als zehn Jahre zuvor; bei einer Familie mit mittlerem Einkommen waren es 2700 Franken. Eine Familie mit einem hohen Einkommen hat weitaus mehr zusätzliche Mittel zur Verfügung, nämlich 14 800 Franken.
Der «Statistische Sozialbericht Schweiz 2011» des Bundesamtes für Statistik kommt zur gleichen Einschätzung: Die einkommensstarken und die einkommensschwachen Haushalte entwickeln sich auseinander. «Den finanziell gut gestellten Erwerbshaushalten geht es besser, während die Einkommenssituation im unteren Bereich stagniert.»
Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass die Belastung durch obligatorische Ausgaben für die einkommensschwächsten Haushalte am stärksten zugenommen hat, was vor allem auf den Anstieg der Krankenkassenprämien, aber auch auf die Steuerbelastung zurückzuführen ist. So belasten die Krankenkassenprämien das Budget der untersten Einkommensgruppe mit 38 Prozent überdurchschnittlich stark. Die einkommensschwachen Haushalte sind zusammen mit den einkommensstärksten Haushalten überdurchschnittlich durch obligatorische Abgaben belastet. Anteilsmässig am wenigsten Steuern zahlt nicht das unterste, sondern das zweite Einkommensquintil. Es wird also deutlich, dass bei den obligatorischen Ausgaben keine progressive Belastung vorliegt, sondern im Gegenteil untere Einkommen stärker belastet werden.
Es gibt in der Schweiz also immer mehr Menschen, die sehr viel verdienen, und immer noch zu viele, die – auch trotz Erwerbsarbeit – zu wenig zum Leben haben. 2008 waren 118 000 Personen Vollzeit erwerbstätig, ohne davon den Lebensunterhalt für sich oder ihre Familie bestreiten zu können.
Die Sozialtransfers verringern die Ungleichverteilung der Einkommen nur minimal. Die Schere geht bei den verfügbaren Einkommen noch stärker auf als bei den Bruttoeinkommen. «Das weist auf ein Versagen der Politik hin, die die Einkommensungleichheiten glätten und nicht verstärken soll.» (Lampart, Galluser, 2011, S. 20)
Weiterer Schritt zu Mehrklassen-Gesundheitssystem
Die zunehmend ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen wirkt sich unter anderem auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung aus. So können sich Reiche eine Operation selber finanzieren, während Armutsbetroffene aus finanziellen Gründen auf medizinische Behandlung verzichten müssen. Eine Studie der Genfer Spitäler hat gezeigt, dass 14,5 Prozent der Bevölkerung im Kanton Genf es in den letzten zwölf Monaten aus finanziellen Gründen vermieden haben, sich einer nötigen medizinischen Behandlung zu unterziehen. Von den Personen mit einem monatlichen Einkommen unter 3000 Franken waren es gar 30 Prozent.
Gleichzeitig wurde 2011 der Leistungskatalog der Krankenversicherer eingeschränkt und Kosten wurden auf die Patientinnen und Patienten umgelagert. So bezahlen die Krankenkassen seit 2011 keine Beiträge mehr an Brillengläser und Kontaktlinsen für Erwachsene. Der Beitrag, der eine erwachsene Person pro im Spital verbrachten Tag an die Verpflegungskosten beisteuern muss, wurde von 10 auf 15 Franken erhöht.
Das revidierte Krankenversicherungsgesetz (KVG) sieht vor, dass die Krankenkassen grundsätzlich keine Leistungen der Grundversicherung mehr sistieren dürfen. Werden Krankenkassenrechnungen vom Patienten nicht bezahlt, übernimmt der Kanton nach erfolgloser Betreibung des Schuldners oder der Schuldnerin 85 Prozent der ausstehenden Kosten.
Wichtig ist die vorgesehene Ausnahme: Die Krankenkassen können dann Leistungen einschränken, wenn die Kantone eine Liste derjenigen Personen führen, die ihre Krankenkassenprämien nicht bezahlen. Mehrere Kantone diskutierten in den vergangenen Monaten die Einführung von Listen jener Versicherten, die von Krankenversicherern wegen ausstehender Prämienzahlungen betrieben werden. Im Kanton Thurgau wird eine solche seit gut drei Jahren geführt, wobei die Bewertung unterschiedlich ausfällt. Die Erfahrungen zeigen, dass Betroffene darauf verzichten, ärztlichen Rat einzuholen, und wichtige Medikamente absetzen. Die Kantone beider Basel sowie Zürich haben laut Medienberichten die Einführung einer Liste der säumigen Prämienzahlenden abgelehnt. Ebenso wie die Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) führen sie soziale, organisatorische und rechtliche Bedenken an.
Für die Betroffenen bedeutet der Eintrag, dass sie nur noch in Notfällen behandelt werden. Von allen anderen Leistungen des Gesundheitssystems werden sie ausgeschlossen. Dies stellt einen Rückschritt in der sozialen Sicherung und einen weiteren Schritt hin zu einem Mehrklassensystem im Gesundheitswesen dar.
Aufgrund dieser Entwicklungen ist davon auszugehen, dass der Zugang zum Gesundheitswesen und die Qualität der Behandlung und Pflege in Zukunft noch mehr von den finanziellen Möglichkeiten einer Person abhängig sein werden.
Wohnungsmarkt birgt «sozialpolitischen Sprengstoff»
Auch auf den Zugang zum Wohnungsmarkt wirken sich die Einkommensunterschiede aus. So sind Personen mit geringem Einkommen bei der Wohnungssuche benachteiligt. In vielen Städten ist es in den letzten Jahren schwieriger geworden, zahlbaren Wohnraum zu finden. So empfehlen denn auch die Stadtammänner der Stadt Zürich, die Mietzinsentwicklung und die Auswirkungen auf Zwangsräumungen im Auge zu behalten.
Die Zürcher Notariate sprechen in Bezug auf «unbedarfte» Praktiken beim Liegenschaftserwerb und die damit verbundene systematische Abwälzung der Hypothekarzinserhöhungen auf die Mietenden gar von «sozialpolitischem Sprengstoff». Die Ausgrenzung vom Wohnungsmarkt ist auch in anderen Städten wie Genf, Lausanne, Luzern und Zug zunehmend Realität und dürfte sich weiter zuspitzen.
Einkommensverteilung ist ausschlaggebend
Eine gerechte Wohlstandsverteilung ist durch Werte wie Solidarität, Chancengleichheit und Gerechtigkeit begründbar – jedoch nicht nur. Richard Wilkinson und Kate Pickett, zwei Forschende an britischen Universitäten, haben international vergleichbare Statistiken analysiert und den Zusammenhang zwischen Durchschnittseinkommen, Einkommensverteilung und sozialen sowie gesundheitlichen Problemen untersucht.
Dabei wird deutlich, dass die Einkommensverteilung und nicht das durchschnittliche Wohlstandsniveau für eine «prosperierende und sozial funktionsfähige Gesellschaft» ausschlaggebend ist: «Eine weit auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich benachteiligt daher nicht nur einkommensschwache Bevölkerungsschichten, sondern schadet der ganzen Gesellschaft.»
Die beiden Forschenden zeigen auf, dass in Gesellschaften mit ausgeprägter Einkommensungleichheit soziale Probleme vermehrt auftreten. Die Einkommensverteilung wirkt sich in reichen Ländern unter anderem auf die physische und psychische Gesundheit, Drogenmissbrauch, Bildungsniveau, Gewalt, Chancengleichheit und Vertrauen in die Gemeinschaft aus. Wilkinson und Pickett zeigen auf, dass Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und das subjektive gesundheitliche Wohlbefinden in Gesellschaften mit grösserer Ungleichheit schlechter ausfallen.
Vermögensungleichheit ist kein Zufall
Obwohl sich die Situationen in Grossbritannien, Portugal, Italien und Griechenland, aber auch jene in Ägypten und Tunesien oder Israel und Chile nur teilweise bis gar nicht vergleichen lassen, ist es kein Zufall, dass sich in all diesen und noch mehr Ländern Menschen jetzt gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit und Perspektivlosigkeit wehren.
Es ist kein Zufall, dass sich auch in der Schweiz die Einkommens- und Vermögensschere geöffnet hat. Was weitläufig als Folge der Krise dargestellt wird, ist systemimmanent. Die Politik der letzten Jahrzehnte hat vor allem an Vorteile für die Wirtschaft gedacht. Möglichst wenig staatliche Regulierung sollte das Wirtschaftswachstum begünstigen. Aufgrund der geringen Regulierung des Finanzmarktes haben Banken verantwortungslos Geld verliehen und sich dabei paradoxerweise darauf verlassen, dass der Staat einspringt, wenn unvorsichtig vergebene Kredite nicht mehr bedient werden. Dazu kommt, dass Steuersenkungen zu wachsenden Defiziten in den Staatshaushalten führten, worauf mit Sparmassnahmen reagiert wurde. Diese treffen oft in erster Linie die Schwachen, da sie demokratisch zu wenig vertreten sind. Es braucht also strukturelle Veränderungen, wenn die Situation aller verbessert werden soll.
Verschiedene Änderungsvorschläge haben in den letzten Jahren und Monaten an Bedeutung gewonnen: von neuen Formen der Wohlstandsmessung – wie sie unter anderem die vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy eingesetzte «Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress» vorgeschlagen hat – über die von zivilgesellschaftlichen Gruppen seit langem empfohlene Finanztransaktionssteuer bis hin zur Entkoppelung von Arbeit und Einkommen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Weiterhin marginal bleiben Debatten um Décroissance beziehungsweise für einen Wachstumsstopp. Auch «die Vorstellung, dass eine weitgehende Absenz des Staates in der Wirtschaft die richtige Wirtschaftspolitik sei, ist erschüttert worden, und die Idee von Staatsinterventionen ist zwangsläufig wieder erwacht.»
Es braucht dringend demokratische Spielregeln
Trotz dieser vermehrten Aufmerksamkeit für gewisse alternative Wirtschaftsmodelle hat gerade das letzte Jahr deutlich gemacht, dass viele Politikerinnen und Politiker den traditionellen Lösungsansätzen sowie den grossen Finanz- und Wirtschaftsakteuren verpflichtet sind.
Die Wirtschaftspolitik dominiert alle anderen Politikfelder, Wachstum und Profit werden oft als Zweck an sich behandelt. Die Diskrepanz zwischen demokratischen Entscheidungen und undemokratischer Macht wird sichtbar. Die Politologin Regula Stämpfli bringt es auf den Punkt, wenn sie darauf hinweist, dass wir in der Schweiz zwar über Minarette oder die Höhe von Kirchentürmen abstimmen können, «nicht aber über unser Volksvermögen, unsere Investitionen und unsere Bildung». Die Milliardenpakete für Banken und für die Wiederherstellung des Vertrauens haben, so Stämpfli, «nichts mehr mit Demokratie, dafür alles mit einem mächtigen Glaubensmodell» zu tun. Spannend daran ist, «dass wir alle noch so tun, als lebten wir in einem rationalen Zeitalter».
Unsere Gesellschaften haben sich neben Regeln für das Wirtschaften dringend vermehrt mit Demokratie und ihren Mechanismen auseinanderzusetzen. Dies wird für die Schweiz deutlich an der intensivierten Diskussion über das Verhältnis zur EU.
Auch die Anliegen der Demokratiebewegungen in Tunesien, Ägypten und Syrien und in einer ganzen Reihe anderer Länder bewegen sich an diesem Schnittpunkt von wirtschaftlichen Perspektiven der Einzelnen einerseits und demokratischen Mechanismen für eine gerechte Wohlstandsverteilung und Entscheidungsfindung andererseits. Es ist höchste Zeit für neue Spielregeln, damit die globalisierte Wirtschaft demokratisch gefasst und in den Dienst der Menschen gestellt werden kann.