Belinda di Valpecca*, 47, leidet an Multipler Sklerose. Vor acht Jahren erhielt sie die Diagnose. Vor drei Jahren erlitt sie einen ersten Krankheitsschub. Seither verschlechterte sich ihr Zustand jedes Jahr, meistens im Herbst.
Meine Ärztin kam mit einem Blatt in der Hand zurück, machte eins, zwei Schritte in mein Zimmer, die Tür liess sie offen, ihre Augen aufs Papier gerichtet sagte sie: «Wahrscheinlich MS». MS, Multiple Sklerose könne man heute gut behandeln, ergänzte sie, drehte auf dem Schuhabsatz und lief wieder zur Tür. Unter dem Türrahmen rief sie noch, dass sie nochmals vorbeikommen würde. Sie kam nie mehr.
Begonnen hat alles eine Woche vorher, mit Magenschmerzen. Ich war mit meinem Mann Giuseppe und meinen Kindern Ada und Alessandro in Apulien am Strand. Sommerferien im Robinson Club. Vielleicht der Fisch, dachte ich, als die Schmerzen begannen, legte mein Buch zur Seite und machte mich auf den Weg ins Hotelzimmer. Ich hatte langes braunes Haar, dunkle Augen, war schlank. Nach 300 Metern machte ich in meinen Bikini.
Den Rest meiner Ferien verbrachte ich im Hotelzimmer. Zurück in der Schweiz ging ich dann ins Spital, bekam Infusionen. Nachdem sie meinen Magen untersucht hatten, wollten sie noch ein MRI vom Kopf machen. Ein neurologischer Untersuch, sagten sie. Und dann, es war am 19. August 2005, erhielt ich meine Diagnose.
Wir sprachen nicht viel, nachdem meine Ärztin in Eile den Raum verlassen hatte. Giuseppe sass an meinem Bett. Ich weinte. Wir wussten genau, was MS bedeutet. Schon Giuseppe‘s erste Frau hatte MS. Bei MS-Patienten greifen körpereigene Abwehrzellen die Nervenfasern an. Arme, Beine, Augen – überhaupt alles ist über Nervenfasern mit unserem Hirn verbunden. Funktioniert unser Nervensystem nicht mehr, funktionieren wir nicht mehr. Taubheitsgefühl, Blindheit, Inkontinenz. MS nennen sie die Krankheit mit den tausend Gesichtern.
In den nächsten Monaten galt mein erster Gedanke beim Aufwachen immer der Krankheit. An den meisten Tagen drehte dieser dann in meinem Kopf ununterbrochen seine Kreise. Um mich abzulenken, kauften wir einen Hund. Kurz nachdem «Rusty» in mein Leben kam, kam auch mein erster Schub.
Bei MS-Patienten verläuft die Krankheit meist in Schüben. Schub für Schub hört der Körper auf zu funktionieren. Schub für Schub verliert das Leben an Bedeutung. Es war im Herbst vor drei Jahren als sich meine Zunge schwer und mein rechtes Bein hölzern anzufühlen begann. Mein erster Krankheitsschub war ein besonders schwerer.
Auf einmal ging ich schlecht, konnte kaum noch sprechen. Statt Wörter flossen Tränen. Einige Wochen dauerte mein erster Schub, dann war er vorüber. Ich begann mich zu erholen, nicht ganz allerdings. Denn etwas bleibt nach so einem Schub immer zurück, etwas erholt sich nie mehr. Mit Rusty spazieren gehen, konnte ich nicht mehr.
Heilen kann man Multiple Sklerose nicht. Es gibt Medikamente, die den Verlauf der Krankheit verlangsamen. Mit ihnen, sagte meinen Ärzte, würden die Krankheitsschübe weniger. Die meisten dieser Medikamente aber haben Nebenwirkungen. Bei mir schlagen sie auf die Leber.
Erst nahm ich «Avonex», dann «Copaxone». Meine Augen wurden gelb, meine Leber schmerzte – und ich setzte die Medikamente wieder ab. Und dann ein Jahr später stolperte ich auf dem Weg von der Küche ins Wohnzimmer. Ich schlug mit dem Kinn gegen die Wand. Mein zweiter Schub.
Die Krankheitsschübe kommen seither Jahr für Jahr, meistens im Herbst. Im Herbst vor drei Jahren kaufte ich einen Rollator. Im Herbst vor zwei Jahren musste ich das Autofahren aufgeben. Und heute schaffe ich die drei Stufen von unserer Wohnung auf die Strasse nicht mehr ohne Hilfe.
Meine Wohnung ist mein 150 Quadratmeter grosses Gefängnis. Mein Leben wird immer einsamer. Nur noch selten gehe ich aus dem Haus, treffe Freundinnen. Einkaufen, tue ich bei «Coop-at-Home» oder «Le Shop». Manchmal sitze ich an meinem Küchentisch warte auf die Lieferung vom Warenhaus und frage mich: «Wieso, wieso ich?»
Wieso der eine MS bekommt und der andere nicht, weiss niemand, auch die Ärzte nicht. In der Schweiz jedenfalls erhält jeden Tag ein Mensch eine MS-Diagnose. Bei mir ist es jener Tag nun acht Jahre her. Heute gelingt es mir manchmal meine Krankheit für wenige Stunden zu vergessen. Jetzt, im Sommer, ist das allerdings etwas schwieriger.
Eigentlich mag ich den Sommer. Doch seit meinem ersten Schub ist er mir oft lästig. Die Hitze wärmt mich auf und baden gehen kann ich kaum. Doch dieser Sommer, der wird wohl nicht ganz so heiss. Bald wird er vorüber sein. Und dann kommt er wieder, der Herbst.
*Name der Redaktion bekannt.