Maximalllohn

Sind wir gegen Gerechtigkeit?

Bild: Chappatte

Bei der Mindestlohninitiative geht es nicht nur um eine gerechte Lohnverteilung, sondern auch um eine funktionierende Demokratie. Oder kann es sein, dass in der Schweiz immer mehr Leute nicht mehr von der Arbeit leben können? Doch die Wirtschaftsvertreter öffnen für die Kampagne einmal mehr ihre Geldschatulle und reden von Gier.

Mindestlohn-Initiative. Endlich mal wieder eine Vorlage, die man auf Anhieb versteht, denkt Markus. Endlich wieder mal eine Forderung, die er ohne Wenn und Aber unterschreiben kann.

Markus empfindet je länger je mehr Widerwillen, wenn alle drei Monate ein weiteres wiederverschliessbares Kuvert ins Haus flattert. Wobei von Flattern gar keine Rede sein kann; wenn das so weitergeht, denkt Markus, müssen die Abstimmungsunterlagen bald als Paketpost ausgeliefert werden, so umfangreich ist das Material inzwischen! Und der Stimmberechtigte wird aufgefordert, sich eine Meinung zu bilden zu 4 nationalen, 5 kantonalen und 6 städtischen Vorlagen mit je 7 Gegenvorschlägen und 8 Stichfragen! Dazu noch die Wahl eines Ersatzbezirksrichters und die Erneuerungswahl der Kreisschulpflege. Markus fragt sich jedes Mal, wozu er eigentlich Parlamentarier wählt, wenn er schlussendlich doch alles selber entscheiden muss!

Bei der Mindestlohn-Initiative muss er für die Meinungsbildung wenigstens keine Zeit investieren. Das ist eine klare Sache, ein eindeutiges Ja. 22 Franken pro Stunde – das ist ja wohl das Mindeste! Und dann wird es Jessica, seine Kollegin und Coiffeuse, vielleicht auch nicht mehr nötig haben, ihn immer wieder um Geld anzupumpen.

Dann gerät Markus aber die Propaganda-Zeitung der Mindestlohn-Gegner in die Finger. Er überfliegt sie in der festen Überzeugung, seine Meinung sei gemacht und nicht erschütterbar. Doch Markus bleibt an einigen Punkten hängen, und zu seinem Erschrecken leuchten die ihm auch noch ein!

Man sollte sich einfach nicht zu sehr mit einer Materie auseinandersetzen, man kommt nur auf dumme Gedanken, denkt Markus, und wirft die Zeitung weg.

Gewisse Einwände gegen die Initiative lassen ihm aber keine Ruhe. Kann es sein, geht es ihm durch den Kopf, dass Enrico, der Wirt seiner Stammbeiz, mit dem er eben erst an der 1. Mai-Demo war, insgeheim Nein stimmen wird?.. Denn kann sich seine kleine Wirtschaft höhere Lohnkosten überhaupt leisten? Enrico wird im Falle der Annahme ja wohl nicht Mascha, die schönste Barfrau der Stadt, entlassen müssen!… Oder schlägt einfach das Bier auf?..

Markus kramt das verfluchte Propagandablatt der Initiativgegner wieder aus dem Altpapier und studiert ihre Positionen genauer. Und je eingehender er sich damit befasst, desto mehr wächst in ihm die Befürchtung, dass diese Argumente eine Mehrheit der Schweizer Stimmbürger überzeugen wird.

Aber er, Markus, wird Ja stimmen! Wie man es von ihm, und wie er es von sich selbst erwartet. Das wär ja noch – ein Linker, der zu einer gewerkschaftlichen Initiative Nein sagt!.. Und man stimmt ja über die Forderung ab und nicht über die Folgen für die Gesamtwirtschaft, oder?.. Und vor allem will er nicht Schuld sein, wenn die Vorlage bachab geschickt wird.

Und Markus erinnert sich an die Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle». Das war auch so eine klare Sache. Und davon hätten noch weit mehr Schweizer profitiert als von einem Mindestlohn.

Vielleicht ist es gut, dass er nicht mehr Ferien hat, denkt Markus. Dann hätte er nämlich mehr Zeit, sich mit Abstimmungsvorlagen gründlich auseinanderzusetzen. Wer weiss, was für einen Blödsinn er dann abstimmen würde..

«Wollen Sie die Volksinitiative ‚Für den Schutz fairer Löhne (Mindestlohn-Initiative)‘ annehmen?»

Jawoll!, feuert sich Markus selbst an. Schliesslich geht es um die Idee, und die ist richtig und wichtig! Er setzt ein sauberes «Ja» ins Kästchen.

Man muss ja nicht immer hunderprozentig überzeugt sein, denkt Markus.

50,3% reichen auch.

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