Journalismus

Nachrichten aus einem abgeriegelten Land

Schild im von Israel besetzten Jordantal, vor dem Dorf el Beida: Israelische Bürger dürfen nicht ins Palästinenserdorf hinein, Palästinenser dürfen nur bis zum nächsten Checkpoint weiter. (Bild: Christian Walther)

«Ich war in 47 Ländern, aber nie in Israel. Ausser im Gefängnis.» Nasser Al-Laham sitzt im achten Stockwerk eines unansehnlichen Bürohauses in Bethlehem und saugt an einer Zigarette. «Jerusalem liegt bloss zehn Kilometer von Bethlehem entfernt, aber ich darf dort nicht hinreisen. Und wissen Sie, weshalb nicht? Weil ich eine Green Card habe», sagt Al-Laham trocken. Inhaber von grünen Identitätskarten werden an der Sperrmauer zurück gewiesen, welche das Westjordanland von Jerusalem trennt. Die meisten BewohnerInnen des Westjordanlandes, zu dem auch Bethlehem gehört, haben grüne Identitätskarten.

Nasser Al-Laham hat Psychologie studiert, für ein unabhängiges Palästina gekämpft und sass dafür mehrere Jahre hinter Gitter. Heute ist er Chefredaktor der Ma’an News Agency, der erfolgreichsten Nachrichtenagentur Palästinas, die nicht nur von The New York Times und der BBC zitiert wird, sondern auch regelmässig von israelischen Tageszeitungen wie Haaretz und The Jerusalem Post.

Unabhängige Information

Ein Stockwerk tiefer geht derweil die tägliche Koordinationssitzung der Verantwortlichen für die englische, arabische und hebräische Website zu Ende. «Ich kann Ma’an schlecht mit anderen Medien vergleichen, da ich zuvor nicht als Journalistin gearbeitet habe», sagt Shumoua Gharib, bevor sie in der etwas behelfsmässig zusammengezimmerten Tonkabine die Elf-Uhr-Nachrichten lesen geht. «Ich höre bloss immer, dass die meisten Menschen hierzulande als erstes unsere Website öffnen, wenn sie morgens zur Arbeit erscheinen.»

Redaktionsräume der palästinenschen Agentur Ma'an in Bethlehem. (Bild Christian Walther)

Ursprünglich ein Verbund lokaler TV-Stationen, gilt Ma’an heute als wichtigster Anbieter unabhängiger Information in der Region. Die Agentur nimmt eine palästinensische Optik ein, informiert aber unabhängig von der Palästinensischen Autonomiebehörde und den beiden Parteien Fatah und Hamas. «Ja, die Gründung von Ma’an hat eingeschlagen wie eine Bombe. Plötzlich gab es unabhängige Informationen aus der Region, und das erst noch rund um die Uhr», sagt der frühere Reuters-Korrespondent Haitham Tamimi, der heute für die Temporary International Presence (TIPH) in Hebron arbeitet.

Das Unternehmen hat vier Stockwerke eines Hochhauses im Zentrum von Bethlehem inne und beschäftigt rund 100 Mitarbeiter, darunter Korrespondenten in jeder Stadt des Westjordanlandes und einige in Gaza. Mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden sind Frauen, 32 Prozent sind palästinensische Christen und 12 Prozent Ausländer. Letztere kommen aus Grossbritannien, den USA und Kanada und betreuen die englischsprachige Website und das von internationalen Agenturen wie AP, AFP und Reuters genutzte Fotoarchiv.

Nebst Newsbulletins produziert Ma’an auch eigene Radio- und Fernsehsendungen. Doch der wichtigste Kanal bleibt die Website, die pro Monat 3 Millionen Hits verzeichnet und im Juni 2011 zum sechsten Mal in Folge zur beliebtesten Informationsquelle Palästinas gewählt wurde. Auf den Plätzen 2 und 3 liegen die Sites von Al-Jazeera und von der in Jerusalem erscheinenden Tageszeitung Al-Quds.

Impuls aus der Schweiz

Die Idee, eine unabhängige und säkulare palästinensische Presseagentur zu schaffen, hatte Nasser Al-Laham seit der Schaffung der Palästinensischen Autonomiebehörde 1994 mit sich herumgetragen. Als er dann 2003 mit Hilfe des Diplomaten und damaligen Leiters des Schweizer Verbindungsbüros in Palästina, Jean-Jacques Joris, an eine internationale Konferenz unabhängiger Medien nach Genf reisen konnte, war der Fall klar. Mit der Unterstützung der Regierungen von Dänemark und den Niederlanden wurde die Nachrichtenagentur 2005 als Nichtregierungsorganisation gegründet.

Zeitungen gibt es auch, doch ihre Bedeutung schwindet, und das hat nicht nur mit der Verbreitung von Internet und Satellitenfernsehen zu tun. Das Problem ist, so sind sich alle Journalisten einig, bei allen drei Tageszeitungen dasselbe: Sie gehören einflussreichen palästinensischen Familien, die wenig Interesse an kritischem Journalismus haben, sondern ihre Blätter eher aus Prestigegründen pflegen. «Israel wird oft zu Recht kritisiert, aber es ist – mit Abstrichen – ein demokratischer Staat. Und als demokratischer Staat respektiert Israel die vierte Macht im Lande, die Medien», erklärt der Palästinenser Haitham Tamimi. «Das Westjordanland hingegen ist ein international nicht anerkannter Fleckenteppich halb souveräner Stadtstaaten, die von einer allmächtigen Partei, der Fatah, regiert werden. Die haben kein Interesse an einer unabhängigen Presse.»

«Ramallahs Bananenrepublik»

Ein Interesse besteht noch weniger, wenn der «Erzfeind» das Medium betreibt. Al-Aksa TV, der offizielle Sender der Hamas, wurde im September 2007 von der Fatah im Westjordanland verboten. Die Hamas wiederum, die seit drei Jahren Gaza regiert, hat Stationen, die aus der Westbank senden, 2008 verboten. Und als die Internetzeitung Donia Al-Watan einen Artikel über einen Korruptionsfall innerhalb der Regierung des Westjordanlandes mit «Ramallahs Bananenrepublik» betitelte, war deren Website mehrere Wochen lang gesperrt.

«Wenn ein Journalist die Palästinensische Autonomiebehörde kritisiert, dann heisst es sofort, er unterstütze die Hamas, oder noch schlimmer, die israelische Besatzungspolitik», sagt Haitham Tamimi. Und Nasser Al-Laham konstatiert: «Wir bekämpfen uns seit Jahren gegenseitig, statt gemeinsam einen wie auch immer gearteten Staat zu errichten.»
Und so ist Palästina in den letzten Jahren im Index der Pressefreiheit von Reporters Sans Frontières ständig nach hinten gerutscht und belegt inzwischen Platz 150 von 173.

Arbeiten in einem besetzten Land

Der Konflikt innerhalb Palästinas ist aber nicht das einzige Problem, mit dem Journalisten hier zu kämpfen haben. Die Tatsache, dass sie in einem besetzten Gebiet arbeiten müssen, wiegt viel schwerer. Die israelische Regierung betrachtet Ma’an nämlich nicht als Nachrichtenagentur, sondern als politische Organisation. Das bekam beispielsweise Jared Malsin zu spüren, ein jüdischer US-Amerikaner, der als Redaktor für Ma’an arbeitet. Als er im Januar 2010 aus Prag kommend nach Israel einreisen wollte, wurde er acht Stunden festgehalten und anschliessend nach Prag zurück gewiesen. Dasselbe ist im Mai 2010 auch dem bekannten Linguisten und Politaktivisten Noam Chomsky passiert. Die Begründung war in beiden Fällen dieselbe: Die beiden Personen hätten «den Staat Israel kritisiert».

Ende Februar 2012 schliesslich schloss die israelische Armee zwei kleine TV-Sender im Westjordanland, weil sie angeblich den Funkverkehr des Flughafens Ben Gurion bei Tel Aviv gestört hätten. Laut übereinstimmenden Berichten von Ma’an und Ha’aretz sei diese Begründung wenig stichhaltig, die beiden TV-Sender hätten auch nicht dieselben Frequenzen benutzt. «Und selbst wenn es so wäre, berechtigt dies die israelische Armee noch lange nicht dazu, mitten in der Nacht unser Universitätsgelände zu stürmen», enervierte sich Lucy Nusseibeh, die Leiterin des Medieninstituts der Universität Al Quds gegenüber den Medien.

Wenig Berichterstattung in Israel

In Israel wirft das gesetzeswidrige Verhalten der eigenen Armee keine hohen Wellen, erklärt die israelisch-amerikanische Journalistin Mya Guarnieri, die unter anderem für The Jerusalem Post, The Huffington Post und die Website von Al-Jazeera schreibt. «Ausländer mögen erstaunt sein, aber in Israel wird – abgesehen von Fragen der Sicherheit – wenig über Palästina berichtet. Viele Israeli wollen schlichtweg nichts vom Konflikt wissen. In der Schule und später in der Armee wird sehr viel Wert auf die Vermittlung einer Opferkultur gelegt. Und so sind die meisten Menschen später gar nicht fähig oder bereit zu glauben, dass auch andere Volksgruppen, die zudem noch direkt vor ihrer Nase leben, Opfer sein könnten.»

Wollen sich Israeli ein Bild von der Lage in Palästina machen, müssen sie dies illegal tun. Israelischen Staatsbürgern ist es verboten, den Gazastreifen oder die Zone A des Wesjordanlandes – das sind Bethlehem, Ramallah, Nablus, Jericho und weitere kleinere Städte – zu betreten. Für Journalisten können die israelischen Behörden zwar Ausnahmen bewilligen. So berichten beispielsweise Gideon Levy und Amira Hass seit Jahren für «Ha‘aretz» aus dem Westjordanland. Die Regel hingegen ist eine andere: Der Alltag in den palästinensischen Gebieten sowie eine von der offiziellen palästinensischen Optik abweichende Berichterstattung findet in israelischen Medien praktisch nicht statt. Und weil die meisten ausländischen Journalisten in Tel Aviv wohnen, für die Erteilung der Pressevisa auf die israelischen Behörden angewiesen sind und kein Arabisch sprechen, berichten ausländische Medien fast ebenso selten über Palästina wie jene Israels.

Die Journalisten von Ma’an kritisieren diesen Zustand verständlicherweise, denn er verhindert Austausch, Rede- und Meinungsfreiheit. «Wir möchten qualitativ hochwertigen Journalismus bieten», resümiert Nasser Al-Laham. «Und von einigen israelischen Journalisten könnten wir viel lernen. Schade nur, dass die Mauer sie ebenso von uns trennt wie uns von ihnen.»

Ein Bilderrätsel aus Palästina

Das Schild auf dem Hauptbild des Artikels steht vor dem Dorf Ein el Beida in der Zone C des Westjordanlandes, dem Kernland Palästinas. Es richtet sich an den «lieben Bürger». Mit den «lieben Bürgern» sind aber nicht die Palästinenser gemeint, die im Dorf hinter dem Schild wohnen und ihre Felder mit Hilfe internationaler Organisationen wie beispielsweise der FAO (siehe Schild im Hintergrund) bestellen. Die «lieben Bürger» sind Menschen mit israelischem Pass, die sich in zahlreichen tatsächlich illegalen Siedlungen entlang des Jordans niedergelassen haben und dort Früchte, Gemüse und Gartenkräuter für den Export nach Europa anbauen. Diese Landnahme ist nach internationaler Lesart illegal.

Beschützt werden die illegal anwesenden Siedler von der israelischen Armee, der IDF. Die IDF (Israel Defense Forces) hält seit 1967 über 60 Prozent des Westjordanlandes besetzt. Was heisst das für die BewohnerInnen von Ein el Beida? Wenn sie Richtung Norden fahren, kommen sie nach zwei Kilometern an den Checkpoint Bisan, der die eigentliche Grenze zwischen dem besetzten Westjordanland und Israel markiert. Dort werden sie kontrolliert und gleich wieder zurückgeschickt. PalästinenserInnen im Westjordanland haben keinen Pass, sondern Green Cards. Mit Green Cards darf man allerdings nicht nach Israel reisen. Dazu gehört nach israelischer Lesart seit 1967 auch der Ostteil Jerusalems, der inzwischen durch eine Sperrmauer vom restlichen Westjordanland abgetrennt wurde.

Das Westjordanland – ein Flecken Land, der in der Grösse etwa dem Kanton Bern entspricht – ist durchsetzt mit unzähligen israelischen Siedlungen und Hunderten von Checkpoints, Erdwällen und Strassensperren, die den Zugang der Palästinenser zu ihren Feldern, Olivenbäumen und jenen Dörfern, die auf der «falschen» Seite der Mauer liegen, verhindern. So ist zum Beispiel das gesamte Jordantal militärisch besetzt. Ebenso dürfen die PalästinenserInnen das Tote Meer nicht touristisch nutzen, obwohl ihnen laut internationaler Lesart rund 20 Kilometer Küste zustehen würden.

Die Autorität der Palästinensischen Autonomiebehörde beschränkt sich einzig auf die Zone A, das sind Ramallah, Bethlehem, Nablus, Jericho und ein paar kleinere Städte. Sobald man jedoch diese «Inseln» verlässt, steht man erneut an einem israelischen Checkpoint und das Spiel, das für die Palästinenser nie eines war, beginnt von vorn.

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